Kunst entdecken, wahrnehmen, öffentlich machen.

budapest

Johannes Groth

Könnyebb volna tán feledni
Mint távozásom érteni
Múltból egy kiszakított lap
E ködbol indul egy vonat

Es mag leichter sein zu vergessen
Als meinen Weggang zu verstehen
Eine zerrissene Seite aus der Vergangenheit
Aus diesem Nebel fährt ein Zug ab

Thomas Dolby, aus Budapest By Blimp
vom Album Aliens Ate My Buick, 1988

ÜBERBORDENDE LEERE

September 1989. Mein Freund Wolfgang sitzt mir gegenüber im Eisenbahnabteil des nachtzuges und schläft. Das gedämpfte, weiche, warme nachtlicht fällt zwischen den Koffern auf der Gepäckablage hindurch auf sein Gesicht. Im ge- rahmten Spiegel an der Wand über ihm tanzen die Lichter der draußen vorüberziehenden Welt, flüchtig schillernd wie die bilder eines Traums.

Das hätte eines der 21 für dieses büchlein aus- gewählten bilder werden können, die ich auf un- serer reise nach budapest aber nicht gemacht habe. Dieses Mal wollte ich nicht fotografieren. Die Kamera blieb zu Hause. Ganz bewusst.

In budapest waren wir Zaungäste grundstürzen- der politischer Veränderungen. Am 2. oktober

fanden wir keinen Platz mehr im Café Gerbeaud, dem legendären budapester Kaffeehaus, weil es voller Deutscher war. Die großen Schlagzeilen ih- rer bILD-Zeitungen verkündeten, dass am Abend des 30. September die Ausreise der fast 6.000 DDr-Flüchtlinge aus der bundesrepublikanischen botschaft in Prag genehmigt worden war. Wäh- rend die berühmt gewordene Ansprache des Au- ßenministers Hans-Dietrich Genscher auf dem bal- kon im Jubel unterging, waren wir unterwegs, in den Kellern des einzigen Punk-Clubs in budapest, dem Schwarzen Loch.

Wenige Wochen später fiel dann die Mauer. „Und ich?“, schrieb ich damals in mein Tage- buch. Der Zusammenbruch verkrusteter Systeme, die rohe Energie des Aufbruchs, die Differenzen über die zukünftige Ausrichtung der großen Welt um mich herum spiegelten sich auch in meinem eigenen Leben. Innerlich unklar und zerrissen, zwischen Studium, Zivildienst und beruflichen Ent- scheidungen, suchte ich nach orientierung.

Ich wusste nicht, wohin mit meiner Fotografie. Was würde ich sehen? Was würde ich warum wie fotografieren wollen?

Ich stellte alles in Frage.

Ich wollte mich abgrenzen von der Fotografie. Ich wollte die realität trennen von der Fotografie. Ich wollte die reale realität, nicht die der bilder. Ich wollte mich nicht in den bildern verlieren. Ich

wollte mich nicht an die bilder verlieren.
Ich wollte mich selbst ermächtigen. Ich wollte die Kontrolle über meine bilder zurück. Ich wollte das

Licht der bilder behalten.
Die bilder blieben in meinem Kopf.

Juni 2023. Franz erzählt mir von einer Aufführung des Werkes 4’33” des amerikanischen Kompo- nisten John Cage. Und ich begegne dem No Art Piece des taiwanesischen Performance-Künstlers Tehching Hsieh in der neuen nationalgalerie in berlin. Da leuchtet budapest nach 34 Jahren plötzlich wieder in mir auf. Und damit die Idee, es jetzt zu veröffentlichen.

Diese Licht-bilder strahlen für mich wie am ers- ten Tag. Sie erhellen die Erinnerungen an die gro- ßen und die kleinen Umbrüche, die sich zu die- ser besonderen Zeit an diesem besonderen ort zugetragen haben. Und sie fragen nach der be- deutung und den Möglichkeiten der Fotografie.

Danke, Franz, für die Herausgabe dieser Arbeit in Deiner reihe der artbooklets.

Johannes Groht

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